„Dritte Kraft“ im Coaching: Humanistische Psychologie

Wie erhellend es – nicht nur in Coachings – ist, sich gedankliche Konstruktionen bewusst zu machen und sich im systemischen Denken zu üben, um so zum Beobachter der eigenen subjektiven „Wirklichkeit“ zu werden, haben ich in den letzten beiden Beiträge ( > „Ein Blick auf das Konstruktivistische“ und > „Mal ein paar Worte zum Systemischen“) beleuchtet. Das gilt für das Verstehen von Kommunikation sowie das infrage Stellen des eigenen Standpunktes, der einen Wechsel der Perspektive und damit oft auch die Lösung von Konflikten ermöglicht.

Mehr als eine Theorie: ein Menschenbild
Entscheidend ist nun, auf welcher Grundlage eines Persönlichkeitsmodells und mehr noch: eines Menschenbildes solche Arbeit in einem Coaching getan wird, damit Ihre Selbstverantwortung als Klient*in gestärkt wird und die Augenhöhe zwischen Ihnen als Kunde und mir als Coach in diesem Prozess gewahrt bleibt. Hier nun kommt die „dritte Kraft“[1] in den Blick, die prägend für die Entwicklung von Coaching war: die Humanistische Psychologie.

Autoritäres „Menschenbild“ eines fragwürdigen Systems.

Wenn wir von Emotionen wie Scham, Wut oder auch Angst in unserem Alltag getroffen werden, die uns bisweilen von Kindheitstagen her überwältigen und uns – zum Beispiel am Arbeitsplatz – einschränken, weil Erlebnisse aus jener Zeit im Hier und im Jetzt wiedererweckt werden, dann heißt an dieser Stelle die gute Nachricht: Kein Mensch muss der Gefangene seiner Gefühle bleiben. Dieser befreiende Satz wird dem amerikanischen Psychologen und Therapeuten Carl Rogers[2] zugeschrieben. Zusammen mit der Familientherapeutin Virginia Satir und dem Psychologen Abraham Harold Maslow hatte er, Rogers, Anfang der sechziger Jahre in den USA die Association for Humanistic Psychology (AHP) gegründet, die sich an die Spitze der neuen Bewegung setzte mit ihrer Kritik an mechanistischen Modellen wie vor allem dem naturwissenschaftlichen Ansatz des verhaltensorientierten Behaviorismus, aber auch der Psychoanalyse.

„Keep walking!“
Wenig taugten Rogers und seinen Mitstreitern für ihre therapeutische und beratende Praxis diese beiden – freilich in sich sehr unterschiedlichen – Persönlichkeitsmodelle. Deren Begründer waren sich allerdings zu jeweils ihrer Zeit in einem Punkt durchaus einig: Der Mensch sei insofern ein bedingtes, also unfreies Wesen, als dass er einerseits Reiz-Reaktions-Mechanismen von außen unterworfen sei, so die Annahme des Behaviorismus, und andererseits von innen durch seine Grundtriebe determiniert, so die Annahme der klassischen Psychoanalyse.

Solche Bedingtheit stellten die Vertreter[3] der Humanistischen Psychologie nun mit aller Vehemenz in Frage; und auch mit aller Konsequenz, was die Möglichkeiten zur Förderung der aktiven Lebensgestaltung von Menschen betrifft. Sie postulierten den homo sapiens in ihrem Persönlichkeitsmodell als freies Individuum, das sein Leben zu jeder Zeit neu in die Hand nehmen und selbstreflexiv lernen kann – mit der inneren wie der äußeren Welt in Kontakt.

Kontext kreiert Bedeutung: „CHANGE“!

Scheitern als Chance zur Selbstaktualisierung
Diese durchaus hoffnungsvolle Sicht der Dinge beruht auf drei Grundannahmen, die ich Ihnen anhand einer Erfahrung erläutern will, welche ich selbst – und vermutlich auch Sie – schon öfter im Leben gemacht haben, der Erfahrung des Scheiterns:

  • Erstens, der Mensch ist in jedem Moment frei, sich neu zu entscheiden und einen anderen Weg einzuschlagen, wenn sich der vorige als Sackgasse erwiesen hat.
  • Zweitens, nie scheitert der Mensch als ganzer, sondern nur ein konkretes Vorhaben oder sein Handeln in einer bestimmten Situation.
  • Drittens, der Mensch besitzt, aufgrund eines angeborenen Strebens die Fähigkeit zur eigenständigen Problemlösung, und zwar durch die Chance seiner Selbstaktualisierung, wie Rogers das genannt – und damit den Begriff geprägt – hat.

Die größte Hürde aber, die wir beim Sprung jener Aktualisierung unseres Selbst nehmen müssen, beginnt mit dem Schritt aus der Haft unserer Gefühle und unserer Gedanken über uns selbst und die anderen, welche wir durch Erziehung und Erfahrung als Prinzipien und Glaubenssätze verinnerlicht haben. Die Tage unserer persönlichen Prägung liegen weit zurück. Ob wir ein positives oder negatives Selbst-Konzept entwickeln konnten, stand zunächst nicht in unserer Macht. Ob uns die Menschen, denen wir an vertraut waren, mit Wertschätzung begegneten oder nicht, entzog sich unserem Einfluss. Ob wir als Kinder lernen durften, Wut oder Trauer zuzulassen und auch zu zeigen, entschied mit darüber, ob wir uns als Erwachsene heute im Scheitern mit Selbstachtung begegnen können oder nicht.

Selbstaktualisierung erhebt über Erziehung und Glaubenssätze.

Wer sein Scheitern nicht als Schicksal, sondern tatsächlich als Chance der Selbstaktualisierung begreifen und nutzen will, der stellt sich diesen Einsichten und den Wahrheiten seiner Person mit „Milde und Tapferkeit“[4]. Erst mit dieser Haltung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es gelingt, in neuer Freiheit Verantwortung für die eigene Entwicklung zu übernehmen.

Wenn wir uns mitteilen, können wir zu uns selbst gelangen – das ist eine weitere der Grundannahmen des Gesprächstherapeuten Carl Rogers und der Humanistischen Psychologie, die auch Coaching als Profession so wesentlich inspiriert hat. Sie kann Menschen zu der Entdeckung verhelfen, wenn es denn gut läuft: Scheitern ist per se keine Katastrophe und erst recht keine Schande, sondern eine Methode, nach der wir dazulernen – manchmal bitter und nicht selten schmerzhaft, gewiss. Aber wirksam!

Quellen und Anmerkungen

Zur Illustration dieses Beitrags kamen Motive einer Bulgarienreise (2010) zum Einsatz, welche die damalige Alltagsästhetik in der Hauptstadt Sofia dokumentieren.

[1] Wie schon bei der Darstellung des ersten und zweiten Theoriefundaments – der Systemtheorie und des Radikalen Konstruktivismus in den o. g. beiden Blog-Beiträgen – beschränke ich mich auch hier auf nur einige wesentliche Kernaussagen der Humanistischen Psychologie, die ihrerseits als „dritte Kraft“ in der Psychologie bezeichnet wird. Als solche steht sie neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus, der das Verhalten von Menschen und Tieren mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht und dabei auf alle Einfühlung verzichtet.

[2] Carl Rogers (1902 – 1987), geboren in Oak Park/Illinois (USA), gestorben in Chicago, wirkte und forschte als Psychologe und Psychotherapeut. Auf ihn geht die Klientenzentrierte Gesprächstherapie zurück, die grundlegend für die Gesprächsführung in praktisch allen psychologischen und pädagogischen Kontexten ist, so auch im Coaching. Zentral ist hier das Verständnis der sogenannten Kongruenz: „Hiermit macht Rogers klar, daß es dem Klienten in einer Beziehung nur möglich ist zu wachsen, wenn ihm der Therapeut so gegenübertritt, wie er wirklich ist. Das heißt, er ist in dieser Beziehung, in diesem Moment selbst auch Mensch, kann also auch über seine Gefühle und Einstellungen offen reden und stellt sich nicht als jemanden dar, der etwa nur aufgrund seiner Profession in der Hierarchie weiter oben angesiedelt ist als der Klient. Der Therapeut muß (und darf) sich also nicht hinter Fassaden, Rollen und Floskeln verstecken, sondern […] eine unmittelbare echte Beziehung von Person zu Person eingehen.“ (Quelle: http://www.carlrogers.de/grundhaltungen-personenzentrierte-gespraechstherapie.html)

[3] Neben Carl Rogers, Virginia Satir und Abraham Harold Maslow sind folgende weitere Impulsgeber der Humanistischen Psychologie wenigstens kurz zu nennen, und zwar mit dem Hinweis, dass es die einheitlich ausformulierte Konzeption einer ‚Schule‘ der Humanistischen Psychologie so eigentlich gar nicht gibt. Vielmehr waren es Fritz Perls (Gestalttherapie), Jakob Levy Moreno (Psychodrama), Viktor Frankl (Logotherapie) Ruth Cohn (Themenzentrierte Interaktion), Eric Berne (Transaktionsanalyse) und Roberto Assagioli (Psychosynthese), die mit ihren Ansätzen das interaktive Persönlichkeitsmodell der Humanistischen Psychologie – und eben auch im Sinne eines Menschenbildes – mit geprägt haben.

[4] > Günter A. Menne, Mit Milde und Tapferkeit, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 09. April 2015, S. 4.

 


Günter A. Menne M.A. | Zertifizierter Senior Coach im Deutschen Bundesverband Coaching e.V.