Die Erfindung der Eleganz

Gewöhnlich greift man zu einem neuen Buch, weil man den Autor schon kennt (und schätzt) oder eine Besprechung liest, die einen anregt, das Buch zu kaufen, oder weil man einer persönlichen Empfehlung folgt. Es gibt noch eine vierte Möglichkeit: man erhält ein Rezensionsexemplar, und wenn man Glück hat, nicht bloß digital, als schnödes PDF, sondern per Post, als richtiges Buch und sogar noch als gebundenes Exemplar!

Den Journalisten (unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und die Deutsche Welle) und Publizisten > Dr. Kersten Knipp kannte ich, als kürzlich sein neues Buch „Die Erfindung der Eleganz“ bei > Reclam veröffentlicht wurde, in der Tat bereits persönlich, und zwar aus vielen anregenden Konversationen über Literatur, Reisen, Kunst und Musik – nein, nicht in einem der lässigen Cafés unserer gemeinsamen Heimatstadt Köln oder am Rande etwa der Frankfurter Buchmesse, sondern auf der Social-Media-Plattform Facebook.

Große Empfehlung: „Die Erfindung der Eleganz“

Als ich das neue Werk des „gelernten“ Romanisten über die Salons im Frankreich des frühen 17. Jahrhunderts (und deren Stil, ja Kultur prägende Wirkung – bis heute!) und die von ihrer Sphäre inspirierten Künstler, Philosophen, Politiker und, weit über die Französische Revolution hinaus, den Bürgerinnen und Bürger ihrer Zeit, dann in Händen hielt, da ahnte ich bereits, dass ich mich auf ein gehaltvolles wie elegantes Lektüreerlebnis freuen dürfte …

Spätestens auf Seite 71 dann, wo uns der Autor Kersten Knipp den Essayisten und Philosophen > Michel de Montaigne (1533-1592) in dessen Studierzimmer und Rückzugsort, jener legendären Bibliothek im Turm seines Anwesens nahe Bordeaux‘ vorstellt, fasste ich dann auch den Entschluss, „Die Erfindung der Eleganz“ den Leserinnen und Lesern meines Blogs zu empfehlen.

Denn als Berater (und ebenfalls „gelernter“ Geisteswissenschaftler) mache ich Klientinnen und Kunden > in meinen Coachings immer wieder auch das Angebot, sich mit den Gedanken und Werken von Philosophen, Schriftstellern, Künstlern und Musikern vertraut zu machen, wenn sie als Menschen in Verantwortung und insbesondere als Führungskräfte in Unternehmen und Organisationen ihre gegenwärtige Situation gründlich reflektieren wollen und nach einer tieferen Orientierung bei der Lösung ihrer „Probleme“ suchen – der Begriff stammt übrigens aus dem Griechischen und bedeutet, an der Wortwurzel gepackt: „das, was zur Lösung vorgelegt ist“.

Bei diesen Problemen und Anliegen geht es nicht selten um Phänomene misslingender Kommunikation im beruflichen (und privaten) Alltag. Die Voraussetzung dafür aber, mit anderen Menschen in gelingende Kommunikation zu kommen ist, das weiß schon und empfiehlt Montaigne, „das Gespräch mit uns selbst“, in dem wir „die Möglichkeiten der Existenz“ durchdenken, so wie der französische Meisterdenker selbst. Und zwar „seiner eigenen Existenz, aber auch die der anderen Menschen, denen er [Montaigne] sich verbunden fühlt, ungeachtet – oder besser vielleicht: dank – seiner Abgeschiedenheit. Denn die Existenz der anderen spiegelt sich in der seinen“, führt Kersten Knipp die Gedanken Montaignes kundig aus.

Doch Montaigne entflieht der Welt immer nur auf Zeit: „Regelmäßig kehrt er aus seiner Bibliothek in die Wirklichkeit zurück“. Und es zeichnet auch das neue Buch von Kersten Knipp vor allem aus, dass er – wenn er seine Leserinnen und Leser in die Zeiten des Ancien Régime und die folgenden Epochen, vor allem in Frankreich, aber auch mit wissenden Seitenblicken in andere europäische Länder, entführt – stets den Bogen seiner Betrachtungen in unsere Gegenwart zu schlagen versteht.

Wir erfahren und lernen dabei, dass viele, noch immer geläufige „Umgangsformen und Konventionen die uns heute selbstverständlich erscheinen: Wie verhält man sich höflich? Wie lässig darf man sich geben? Wie begegnen sich Mann und Frau? Was sagt man, wenn man einander nichts zu sagen hat? Und wie lässt sich ein Mensch am besten beeinflussen?“ ihren Ursprung haben in jenen „eleganten“ Epochen Frankreichs.

Dabei interessiert Knipp – dessen eigene Diktion ein schönes Beispiel eleganter Eloquenz und zugleich der schlichten Klarheit gibt, in der sich jene Eleganz sprachlicher Anmut in Wort und Schrift ja erst zeigt – vor allem, „welche persönlichen Erfahrungen wir mit den alten Texten machen“ und welche Aussagekraft diese für unsere Gegenwart haben: Wie scharfsinnig haben doch damalige Autorinnen und Autoren, bemerkt Knipp, etwa schon „das manipulative Potenzial“ von Kommunikation bei ihren Zeitgenossen erkannt und in ihren Beobachtungen „Standards der Wahrnehmung und sozialen Intelligenz [gesetzt], die bis heute nicht überboten worden sind.“

„Die Erfindung der Eleganz“ ist – mehr als nur eine historische Betrachtung und Einordnung – ein Plädoyer „für eine Kultur des offenen Wortes“ und damit, jedenfalls aus meiner Sicht, auch ein Plädoyer gegen das, was uns heute als rigide „cancel culture“ in Medien, Wissenschaft und längst schon unserer aller Alltag, an unseren Arbeitsplätzen und in den sozialen Netzwerken, entgegentritt.

Erst der pfleglich ausgehaltene Dissens, mahnt Knipp, und die Pluralität der Meinungen, der wir – ich ergänze mit meinen Worten: mit Neugierde und Interesse begegnen sollten, wenn es uns denn um einen Zugewinn an Erkenntnis und damit auch die Aktualisierung unseres Denkens und Fühlens geht, garantiere ein „auskömmliches Miteinander.“ Von Montaigne, Rousseau und Diderot führen hier Spuren – ich glaube sie jedenfalls zuerkennen – zu Rogers, der Humanistischen Psychologie und der systemischen Arbeit!

Und so geht „der erweiterte Blick, den dieser Anspruch voraussetzt, die unbedingte Bereitschaft, sich auf den oder die andere(n) einzulassen und zu erfassen, worum es ihm oder ihr geht, über den Anspruch eine eleganten und schwerelosen Miteinanders [wie es im Salon der Madame de Rambouillet einst gepflegt wurde] weit hinaus“, beschließt Knipp sein flüssig erzähltes Sachbuch, das sich – das sei noch erwähnt – auf eine Fülle von Literatur und Quellen stützt, die der Autor meist selbst aus dem Französischen übersetzt und in zahlreichen Anmerkungen sorgfältig belegt hat.

Besser als der Autor selbst kann man es nicht sagen: „Das gewandte Wort, das feinfühlige, mit sämtlichen Sinnen geführte Gespräch, die freischwebende Aufmerksamkeit für das gesamte Umfeld: All dies […] macht die Welt nicht nur angenehmer und schöner, sondern auch besser – zumindest ein bisschen.“

Ich habe „Die Erfindung der Eleganz“ darum in meine Arbeitsbibliothek als Berater und Coach aufgenommen – und es ist ein wichtiges, ein unverzichtbares Buch für alle, denen die Kultur verstehender und damit gelingender Kommunikation, gerade in diesen unseren Krisenzeiten, am Herzen liegt: große Empfehlung!


Günter A. Menne M.A. | Zertifizierter Senior Coach im Deutschen Bundesverband Coaching e.V.