Mal ein paar Worte zum „Systemischen“

Kunden werden heute kaum noch einen Coach finden, der das Etikett systemisch nicht schon auf dem Firmenschild und auf der Webseite ausweist, und das ist ja auch gut so. Denn der „systemische Blick“[i] erfasst den Klienten nicht isoliert mit seinem Anliegen. In Betracht kommt vielmehr das Ganze, in dem jede(r) Einzelne, in Schule, Studium oder Beruf, in der Familie und anderen Bezügen interagiert: Der Mensch wirkt in seinen Systemen wie die Systeme auf ihn einwirken.

Da wird gleich plausibel, warum Ihnen und mir die Veränderung von Gewohnheiten und Haltungen so verdammt schwer fällt und weshalb es nicht unwichtig ist, eine klassische Beratung – da wird eben ein Rat erteilt – von einer systemischen Beratung oder einem Coaching zu unterscheiden. Hier erweitert der Coach das „System-System“ des Klienten auf Zeit und unterstützt den eigenen Erkenntnis, -Lern- und -Veränderungs-Prozess im Sinne einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder, wie ich es formuliere, einer Selbstermächtigung, über den sprichwörtlichen Rubikon den Fuß auf das neue Ufer zu setzen.

Es mag sich lohnen, einmal etwas tiefer in die verzweigte Theorie des „Systemischen“ vorzudringen, um die (darauf mit gründende) Praxis des Coachings besser zu verstehen und den so häufig verwendeten Begriff zu klären.

Autopoiesis: Frucht vom „Baum der Erkenntnis“ – im Garten von Maturana und Varela

Systeme sind trickreich, denn sie haben die Eigenschaft, sich selbst zu erschaffen und zu erhalten. Dieses Phänomen hat der chilenische Neurobiologe Humberto Maturana beschrieben und diese Erkenntnis seinem Konzept der Autopoiesis[ii] zugrunde gelegt. Stark vereinfacht ist damit gemeint:

Jeder Organismus stellt ein – nach außen in seiner Form abgegrenztes – komplexes Ganzes von Elementen dar, das sich in deren Zusammenspiel permanent selbst erneuert. In seinem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ unterscheidet Humberto Maturana zusammen mit seinem Kollegen Francisco Varela genau dadurch nicht-lebende von lebenden Systemen: „Es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar […]“[iii]

Die beiden Autoren haben diesen Gedanken später in einer umfassenden biologischen Theorie der Kognition von der Informationsverarbeitung lebender Wesen ausformuliert, und diese wurde dann – so viel (oder besser: so wenig) an Wissenschaftsgeschichte muss an dieser Stelle erzählt werden – von Niklas Luhmann in seiner soziologischen Systemtheorie auf die Anschauung und die Arbeit mit sozialen Systemen übertragen.

Systemtheorie: Luhmanns Monstrum – eine Annäherung in drei Schritten

Die Literatur zu diesem Monstrum von Meta-Theorie ist Legion – wie übrigens auch der kritischen Auseinandersetzung[iv] mit ihr. Für diesen Zusammenhang, nämlich der Prägung auch von Coaching durch die Systemtheorie, soll es genügen, nur drei Aspekte der Luhmann’schen Weltsicht näher zu beleuchten:

  • Soziale Systeme existieren – ihrem Wesen nach – durch Kommunikation, ja als Kommunikations-Prozesse.[v] Anders gesagt und auf unseren beruflichen und auch privaten Alltag bezogen: in Organisationen, in Gruppen, in Familien und als Einzelne gehen wir mit Informationen um, indem wir sie auswählen, mitteilen – und auf Verstehen hoffen
  • Soziale Systeme und insbesondere psychische Systeme (oder „Bewusstseine“[vi], wie Luhmann formuliert) haben bei ihrer Verarbeitung von Welt immerzu die natürliche Neigung, Komplexität zu verringern. Dazu bedienen wir uns als Menschen einer bewährten Methode: Wir streben unablässig danach, denkend und deutend Sinn zu erzeugen[vii].
  • Soziale wie psychische Systeme (denken Sie kurz noch einmal an Maturana und die Autopoiesis) haben Grenzen, genauer gesagt Sinngrenzen.[viii] Auf unser Miteinander im Jetzt bezogen, lässt sich daraus schlussfolgern: Wir versuchen auf höchst unterschiedliche Weise, die Anforderungen in den diversen Welten, in denen wir in verschiedenen Rollen denken und handeln, zu bewältigen, und zwar als die eine Person, die wir sind. So bleiben wir als „Bewusstseine“ beständig am Werk, unsere Wirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven[ix] neu zu erschaffen.

Das Spannende daran ist nun, dass unser Gehirn selbst an sich ein soziales System ist. Oder anders gesagt ein soziales Konstrukt, das sich unablässig und in stupender Flexibilität im Umbau befindet, und zwar in Kommunikation mit sich selbst! Die kann dann manchmal von grotesker Komik sein…

Lesen Sie – und wenn auch bloß einmal wieder zum puren Vergnügen, falls Sie diesen Klassiker schon längst kennen, was ich fast vermute – die berühmte Geschichte vom Mann und dem Hammer[x].

Ein Hammer: Watzlawicks berühmte  Geschichte vom Mann mit dem Hammer…

Fallbeispiel: Die Geschichte vom Mann und dem Hammer (von Paul Watzlawick)

Ein Mann möchte seiner Frau eine Freude machen und ein Bild aufhängen, das er für sie gekauft hat. Im Keller findet er einen Zollstock und auch einen Nagel – aber keinen Hammer. Was tun? Er sucht in der Garage nach dem benötigten Werkzeug, doch vergebens. Die Geschäfte haben schon geschlossen, und bald wird seine Frau nach Hause kommen! Da kommt ihm der rettende Einfall – Paul Watzlawick erzählt Ihnen selbst, wie es weiter geht mit dem Mann und dem Hammer: „Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht´s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er ‚Guten Tag‘ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ‚Behalten Sie Ihren Hammer!‘“

Die Geschichte vom Mann und dem Hammer illustriert auch 33 Jahre nach ihrer Erfindung noch auf höchst amüsante Weise, wie wir und unser Gehirn zusammen funktionieren: Informationen von außen werden – im Kontext einer bestimmten Situation – angereichert mit Überlegungen und Spekulationen aus der Kammer unseres Denkens und Fühlens, um sich am Ende zu einem neuen Bild zu verdichten, und es wäre wohl kein Zufall, wenn Sie in diesem Moment vielleicht an Goethes „Dichtung und Wahrheit“ denken müssten…

Ein komplexes Geflecht von „gefühlten“ Überzeugungen, Glaubenssätzen…

Dieses komplexe Geflecht von „gefühlten“ Überzeugungen, Glaubenssätzen, manchmal auch Übertragungen, Deutungen und Meinungen über sich und andere zu entwirren, ist sehr häufig Aufgabe in einem Coaching. Und so liegt die Überlegenheit eines systemischen Coaching-Ansatzes auf der Hand – sowohl bei der Klärung (etwa von interpersonalen Konflikten) der Zusammenarbeit von Teams als auch zum Verstehen und Verändern (etwa bei intrapersonalen Konflikten, denken Sie an schwierige Entscheidungen) von Denkmustern und Verhaltensweisen, die wir uns über lange Zeiträume zu Eigen gemacht haben.

Mit Methoden wie dem „Zirkulären Befragen“ – dabei antwortet der Klient auf Fragen „in der Rolle“ wichtiger Personen aus seinem (für das zu klärende Problem relevanten) Kontext, die nun etwas „über ihn“ und sein Anliegen aussagen – stehen dem Coach wirksame Tools zu Verfügung, mit denen er dem Coachee ermöglicht, Aufschluss sowohl über die Gesamtlage als auch über „über sich selbst“[xi], das heißt zum Beispiel über die Motivlage vor einer schwierigen Entscheidung zu gewinnen.

Ein Vorausblick: etwa in einem Monat lesen Sie meinen nächsten Blog-Beitrag, mit dem wir – wenn Sie mögen – dann einen Blick auf „das Konstruktivistische“ wagen: eine zweite Meta-Theorie der Erkenntnis, die das Format Coaching geprägt hat.

Ich wünsche Ihnen bis dahin einen schönen spätsommerlichen Herbstanfang,
Ihr

Günter A. Menne

 

Quellennachweise und Ergänzungen

[i] Der aus der familientherapeutischen Arbeit stammende Begriff ist inzwischen zum Allgemeingut geworden. Zu dessen etymologischen Quellen und seiner „Verwendungskarriere“ gibt Thomas Stölzel einen gebündelten Überblick und ferner zu bedenken: „Das Wort ‚System‘ erscheint als relativ willkürlich verwendetes Begriffs-Passepartous […], sofern es nicht definitorisch präzisiert und reflektiert wird […]“, in: Thomas Stölzel, Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potenziale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen und Bristol, CT, U.S.A. 2014, S. 29f.

[ii] von altgriechisch αὐτός autos „selbst“ und ποιεῖν poiein „bauen“.

[iii] Humberto Maturana, Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Erkennens. Goldmann, München 1987, S. 56.

[iv] Ein schönes Fundstück ist da zum Beispiel diese sarkastische Kollegen-Kritik von Dirk Kaesler aus dem Fachbereich Soziologie: „Hinter der Fassade ungeheurer Schwierigkeit und einem komplizierten Räderwerk artistischer Begrifflichkeit steckt lediglich eine Handvoll simpler Sätze: Die Welt ist kompliziert, alles ist mit allem verbunden, der Mensch erträgt nur ein begrenztes Maß an Kompliziertheit“, zitiert in Kunczik/Zipfel, Publizistik – ein Studienbuch, 2005, S. 84.

[v] Dazu Luhmann selbst: „Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen.“ Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986, S.269.

[vi] Dieser etwas holprige – aber passende! – Plural findet sich an zahlreichen Stellen der Luhmann-Literatur.

[vii]Nicht alle Systeme verarbeiten Komplexität und Selbstreferenz in der Form von Sinn; aber für die, die dies tun, gibt es nur diese Möglichkeit. Für sie wird Sinn zur Weltform…“, Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß [sic!] einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S.95.

[viii] Ebd.

[ix] Vgl. Fische-Epe, Marion, Coaching. Miteinander Ziele erreichen, Hamburg 2006 (3. Aufl. der überarbeiteten Neuauflage November 2004), S. 19.

[x] Diese – von mir hier zu Beginn mit eigenen Worten nacherzählte – Geschichte findet sich im Original in Paul Watzlawicks Klassiker Anleitung zum Unglücklichsein München 2009 (Erstausgabe 1983).

 


Günter A. Menne M.A. | Zertifizierter Senior Coach im Deutschen Bundesverband Coaching e.V.